#8 Mehr Hirn für Evolution im Kopf
Wenn, wie Theodosius Dobzhansky es behauptete, in der Biologie nichts Sinn macht, außer im Licht der Evolution, dann sollte sie uns auch in unserem Kopf begegnen.
Dass sie dort gleich in zweifacher Hinsicht auftritt, überrascht am Ende aber doch. Einerseits betrifft sie die Hardware, andererseits die Denkprozesse selbst. Beide Aspekte im Blick zu behalten ist nützlich, wenn man wirklich verstehen will, was sich da zwischen den eigenen Ohren so abspielt.
Es gibt zehn Dinge über unser Gehirn, die jeder wissen sollte. Denn wenn wir besser verstehen, wer wir sind und wie wir funktionieren, können wir unser Leben eher zu unserer Zufriedenheit gestalten. Seinen eigenen Geist verstehen, heißt sich selbst erkennen!
Jedem der zehn Eigenschaften widme ich ein eigenen Beitrag. Sie sind durchnummeriert und beginnen alle mit den Worten Mehr Hirn. Manchen beziehen sich aufeinander, aber nicht alle. Man muss sie nicht unbedingt in der von mir gewählten Reihenfolge lesen, denn wenn ein Beitrag auf einen anderen Bezug nimmt, ist ein entsprechender Link vorhanden. Ein vollständige Liste der zehn Überschriften findest du im Beitrag Mehr Hirn bitte!
Recycling im Gehirn
Evolution ist geizig oder sparsam. Ungern wird etwas weggeworfen. Stattdessen ist Recycling angesagt. Was sich einmal bewährt hat, wird, in leicht modifizierter Form, bei neuen Aufgaben eingesetzt. In unserem Gehirn ist das nicht anders. Auf „neuronalem Recycling“ beruhen eine Reihe von Funktionen, die heute zu unserem „höheren“ Standardrepertoire gehören, die aber ursprünglich ganz anderen Aufgaben dienten. Lesefähigkeit und Zahlensinn sind zwei solche Beispiele. Vor allem aber abstraktes Denken. Also das, worauf wir Menschen besonders stolz sind.
Vom Pfadfinder zum Nachdenker
Jene Werkzeuge, die zum Einsatz kommen, wenn wir tief nachdenken, dienten ursprünglich wahrscheinlich nur der Bewegungssteuerung. Aber inzwischen war unsere (Gehirn-)Werkstatt mächtig auf Expansionskurs, bei dem jedoch nichts weggeworfen wurde. Aus dem Navigationswerkzeug, das uns heute noch sagt wo wir uns gerade befinden und wie wir von hier aus nach Hause kommen, entstand zusätzlich etwas völlig Neues: abstraktes Denken.
Klingt verrückt? Nicht, wenn man abstraktes Denken wie folgt beschreibt: Was macht meinen „Standpunkt“ (Problem, Aufgabe) aus und welche „Schritte“ führen mich zu meinem Ziel, bzw. zur Verwirklichung meiner Idee? Folglich könnte die Art und Weise, wie wir in einer fremden Stadt den Weg zum Bahnhof finden, viel mehr mit unserer persönlichen Problemlösungsstrategie zu tun haben, als wir glauben.
Evolution eines Gedankens
Doch nicht nur in der Hardware unseres Geistes zeigen sich die tiefen Spuren der Evolution, sondern auch im Denkprozess selbst. Ein Gedanke entwickelt sich ganz ähnlich, wie sich bei der Evolution die Dinge in der Natur entwickeln: Bewährtes wird umgeformt, angepasst und bei neuen Aufgaben eingesetzt.
Von der Frage zur Antwort
Besonders deutlich wird das beim kreativen Denken. Jemand sucht nach einer Lösung für ein ganz bestimmtes Problem, so wie beispielsweise August Kekulé.
Kekulé suchte nach einer Formel, um die Verbindung von Kohlenstoff und Wasserstoff zu beschreiben. Die Aufgabe war, verschiedene Bausteine – also Atome – so zusammenzusetzen, dass sie den beobachteten Reaktionseigenschaften entsprach. Kekulé probierte Kombinationen, die er von ähnlichen Stoffen kannte, setzt die Bausteine immer wieder neu zusammen. Aber nichts ergab Sinn. Bis, so geht die Geschichte, ihm eines Nachts im Traum eine Schlange erschien, die sich selbst in den Schwanz biss. Schlagartig sah er die Lösung: Eine ringartige Verbindung war der Baustein.
Gedankenbausteine zusammensetzen (lassen)
Bei der Beschreibung des Prinzips der Selbstorganisation hatte ich das Bild eines Teiches mit Wellenbewegung vorgeschlagen – nun können wir es erneut aufgreifen. Die Wellen entsprechen jetzt Kekulés Bausteinen und Kombinationsbemühungen. Wellen, die aus dem See selbst entstehen, sich überlagern, verbinden oder auslöschen, stehen für Kekulés Gedanken-Bausteine. Sie stammen aus früheren Erfahrungen, die ihm bei seiner Lösungssuche wieder in den Sinn oder an die „Oberfläche“ kommen. Aber in unserem Teich können Wellen nicht nur aus ihm selbst entstehen, sondern auch von außen angeregt werden. Ein im richtigen Moment hineingeworfener Gegenstand erzeugt eine Welle, die sich mit der im Teich vorhandenen so verbindet, dass eine noch größere entsteht. Bei Kekulé ist das die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt, sie sorgte für die zündende Idee.
Persönliche Suchstrategie
Die Idee, dass sich unser Gedankenstrom in einem evolutionären Prozess voran bewegt, entstand bereits in den Sechzigern durch Donald Campbell. Er wollte damit allerdings nur kreative Gedankengänge verdeutlichen. Das Bild eines, sich nach den Prinzipien der Evolution entfaltenden Gedankenstroms passt allerdings gut zu den neuen Erkenntnissen über „neuronales Recycling“. Es ist weit mehr als nur eine fixe Idee, in der persönlichen Suchstrategie ein grundlegendes Muster zu erkennen. Eines, das sowohl beim Problemlösen, als auch dem Finden des passenden Weges zutage tritt.
Ist es nicht so, dass wir ein Argument oder eine Erklärung Schritt für Schritt entwickeln? Und dann überprüfen, indem wir den Gedanken erneut abschreiten, aber eine etwas andere Richtung einschlagen, vielleicht den Weg auch mal rückwärts beschreiten? Passiert es nicht gelegentlich, dass wir uns im Kreis bewegen und verzweifelt nach einer neuen Richtung Ausschau halten?
Bevor Sie das alles für allzu weit hergeholt erklären, nehmen Sie sich bitte einmal wirklich Zeit, um an einem ruhigen Ort ausgiebig Ihren Gedankenstrom zu beobachten. Fragen Sie sich, wie der Gedanke, den Sie gerade im Kopf haben, entstanden ist? Beobachten Sie weiter, wie er sich fortentwickelt, wann Sie ihn verlieren, wiederfinden und welche Rolle zufällig auftauchende, spontane Gedanken dabei spielen.
Wer tiefer eintauchen möchte:
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- Recycling im Kopf: Dehaene and Cohen (2007), Cultural recycling of cortical maps
- Kreatives Denken als evolutionärer Prozess:Donald Campbell (1960), Blind variation and selective retention in creative thought as in other knowledge processes
- Verbindung von Metakognition ( > Beitrag #9 / noch nicht veröffentlicht), Spontanes Denken und Meditation: Fox and Christoff (2014), Metacognitive facilitation of spontaneous thought processes: When metacognition helps the wandering mind find its way