#1 Mehr Hirn für Wirklichkeit
Was ist die Wirklichkeit? Wie finden wir sie? Wie viel Wirklichkeit können wir erkennen? Oder ist die Wirklichkeit gar eine Täuschung? Das sind Fragen, die Menschen seit zweitausend Jahren stellen. Jedoch ohne eine Vorstellung davon, wie unser Geist funktioniert, lassen sie sich nicht beantworten. Neueste Forschungserkenntnisse erlauben einen ungeahnt tiefen Einblick. Der ist jedoch ebenso verstörend wie jene Aussagen altindischer Geistesforscher, einer notorisch verschleierten Wirklichkeit.
Es gibt zehn Dinge über unser Gehirn, die jeder wissen sollte. Denn wenn wir besser verstehen, wer wir sind und wie wir funktionieren, können wir unser Leben eher zu unserer Zufriedenheit gestalten. Seinen eigenen Geist verstehen, heißt sich selbst erkennen!
Jedem der zehn Eigenschaften widme ich ein eigenen Beitrag. Sie sind durchnummeriert und beginnen alle mit den Worten Mehr Hirn. Manchen beziehen sich aufeinander, aber nicht alle. Man muss sie nicht unbedingt in der von mir gewählten Reihenfolge lesen, denn wenn ein Beitrag auf einen anderen Bezug nimmt, ist ein entsprechender Link vorhanden. Ein vollständige Liste der zehn Überschriften findest du im Beitrag Mehr Hirn bitte!
Der Blick aus der (schwarzen) Schachtel
Stellen Sie sich eine schwarze Schachtel vor, die links ein Eingang besitzt und rechts ein Ausgang. Alles was Sie sehen ist, dass immer dann, wenn links etwas in die schwarze Schachtel hineingelangt, kurze Zeit später rechts etwas anderes herauskommt. Doch was passiert im Inneren der ominösen Schachtel?
Sie sehen zwar nicht in die schwarze Schachtel, aber Sie können aus wiederholten Beobachtungen Rückschlüsse ziehen. Beispielsweise sehen Sie, dass immer, wenn links eine rote Kugel hineingelangt, rechts eine blaue herauskommt. Sie könnten also zunächst einmal annehmen, dass im inneren der Schachtel Gegenstände blau gefärbt werden. Aber das ist nur eine erste Vermutung. Um es genauer zu erkunden, könnten Sie es einmal mit einer gelben Kugel oder auch mit einem roten Stab oder etwas ganz anderem versuchen.
Wenn Sie geduldig und systematisch weiterprobieren, werden Sie immer zuverlässiger voraussagen können, welche Veränderung zu erwarten sind. Wirklich wissen, was im Inneren der schwarzen Schachtel vor sich geht, werden Sie freilich nie. Das ist aber auch gar nicht notwendig.
Warum erzähle ich Ihnen das? Ganz einfach. Weil für unser Gehirn die Welt da draußen so eine schwarze Schachtel ist! Das heißt, alles, was unser Geist über die Welt weiß, sind Vermutungen, welche er nach dem Black-Box-Prinzip gewinnt. Zugegeben, über Millionen von Jahren hinweg hat das Gehirn raffinierte Strategien entwickelt, nach „draußen“ zu blicken. Doch das Grundprinzip ist das gleiche, behauptet jedenfalls György Buzsáki in seinem neuesten Buch The Brain from Inside Out.
Verschleierter Ausblick
Wenn der Blick nach draußen lediglich auf Vermutungen basiert, bleibt eine gewisse Unsicherheit. Unsicherheit begleitet unser Gehirn quasi auf Schritt und Tritt. Aber die Evolution hat uns mit raffinierten Strategien ausgestattet, um unsere Unsicherheit zu berücksichtigen. So verrückt es klinkt, aber die Wissenschaftler sind sich ziemlich einig, dass das Nervensystem die Zuverlässigkeit seiner Informationen ständig abschätzt und mit einrechnet. Das heißt, unser Gehirn veranlasst uns, zusätzliche Informationen zu suchen, falls die bereits vorhandenen als unzureichend eingestuft wurde. Bereits eine kleine Veränderung des Blickwinkels oder der Perspektive können dafür ausreichen. Manchmal ist aber auch mehr notwendig.
So überraschend gut diese Mechanismen ihren Dienst versehen, sie bleiben eine notorische Fehlerquelle. Sichtbar werden solche Fehler beispielsweise in Form von optischen Täuschungen. Derselbe Kreis erscheint mal größer oder kleiner, je nach dem, wie groß oder klein die Kreise in seiner Nachbarschaft sind (Ebbinghaus Illusion). Obwohl unsere Wahrnehmung mit einer Vielzahl solcher Täuschungen aufwartet, betrachten wir sie eher als Party Gag , aber nicht als Ausdruck einer grundsätzlichen Ungenauigkeit. Unser Glaube, an einen klaren Blick auf die Wirklichkeit, lässt sich so leicht nicht erschüttern. Das ist der größte Fehler!
Im Ignorieren unserer eingebauten „Unfähigkeit“ sahen bereits die alten Indischen Weisen ein entscheidendes Problem. Ja, sie gingen sogar so weit, hier die Quelle des Leides schlechthin zu sehen. Wie weit man dem zustimmt, sei jedem selbst überlassen. Die grundlegende Diagnose jedoch erweist sich als überaus hellsichtig. So erhält die Botschaft des Vedanta, wonach wir die Welt durch den Schleier der Täuschung (maya) betrachten, gerade durch die neuen, wissenschaftlichen Erkenntnisse eine nachvollziehbare Deutung.
Wer tiefer eintauchen möchte:
- Im Podcast von Ginger Campbell schildert György Buzsáki ausführlich seine Inside-Out Sichtweise.
- Hier kann man verschiedenste optische Täuschungen betrachten.
- Stellvertretend für viele altindische Konzepte, die uns eine verzerrte Weltsicht attestieren: Sankara’s Vivekacudamani.