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Mehr Hirn fürs geistige Lenkrad

#9 Mehr Hirn fürs Lenkrad

Was machen wir mit einem Gehirn, das mehr einer Bastelkammer gleicht, denn einer Präzisionswerkstatt? Wie sollen wir umgehen mit einem sich selbst betrügenden Geist, der lediglich über einen verzerrten Blick auf die Wirklichkeit verfügt (mehr dazu in Beitrag 10)? Ist der Gedanke an eine gewisse Souveränität im eigenen geistigen Reich lediglich eine Illusion? Ist jeder Versuch, sich selbst zu steuern und dem eigenen Leben bewusst eine Richtung zu geben, sinnlos, weil wir in Wirklichkeit reine Reiz-Reaktions-Zombies sind?

Die Antwort ist ein verhaltenes Nein. Jedenfalls bringt unser Gehirn die nötigen Voraussetzungen für Zielsteuerung und Selbstkontrolle mit. Von der Hardware her ist es definitiv möglich, dass sich unser Geist selbst beobachtet und bei Bedarf Richtungsänderungen vornimmt. Doch die Handhabung dieser Ausrüstung kostet sowohl Anstrengung als auch Übung, findet also nicht automatisch statt!

Es gibt zehn Dinge über unser Gehirn, die jeder wissen sollte. Denn wenn wir besser verstehen, wer wir sind und wie wir funktionieren, können wir unser Leben eher zu unserer Zufriedenheit gestalten. Seinen eigenen Geist verstehen, heißt sich selbst erkennen!

Jedem der zehn Eigenschaften widme ich ein eigenen Beitrag. Sie sind durchnummeriert und beginnen alle mit den Worten Mehr Hirn. Manchen beziehen sich aufeinander, aber nicht alle. Man muss sie nicht unbedingt in der von mir gewählten Reihenfolge lesen, denn wenn ein Beitrag auf einen anderen Bezug nimmt, ist ein entsprechender Link vorhanden. Ein vollständige Liste der zehn Überschriften findest du im Beitrag Mehr Hirn bitte!

Klarer Blick auf sich selbst

Geistige Selbstbeobachtung – die Wissenschaft nennt das Metakognition – kommt dann ins Spiel, wenn man sich beispielsweise beim Vokabellernen fragt, wann es genug ist. Die Zuversicht, eine Vokabel behalten zu haben, ist eine metakognitive Leistung. Doch die Zuversicht, die sich bei der (Selbst)Beobachtung eigener geistiger Prozesse einstellt, kann trügerisch sein. Zu meinen, das Wort zu kennen und es tatsächlich zu tun, sind bekanntlich zwei verschiedene Dinge.

Je nachdem, in welchem Ausmaß die Selbstbeobachtung (Ich hab‘ das Wort jetzt abgespeichert) dem tatsächlichen Ergebnis (Vokabel behalten) entspricht, attestieren Forscher der Person eine gute oder weniger gute geistige Klarheit. Hier gibt es große Unterschiede. Manche Menschen verfügen von Haus aus über einen sehr klaren Blick auf sich selbst, bei anderen ist die Zuversicht eher unberechtigt. Sie meinen zwar etwas zu wissen, tun es aber nicht. Was beim Vokabellernen „nur“ zu einer schlechten Note führt, hat beim Aktienkauf oder der Partnerwahl mitunter fatale Folgen. Kurz, Metakognition begleitet uns in jeder Lebenslage. In unserem Buch nennen wir das alltägliche Mikrojustierung.

Geistige Klarheit ist keine Charakterfrage  

Wenn jemand wenig Klarheit über die eigenen geistigen Prozesse besitzt, handelt es sich nicht um einen schlechten Charakter, der andere hinters Licht führen will. Vielmehr ist es eine Art Selbstbetrug, der nach außen hin gar nicht sichtbar werden muss!

Entscheidend ist, dass man einen klareren Blick auf sich selbst trainieren, also verbessern kann. Als besonders wirkungsvoll hat sich eine Verstärkung der Selbstskepsis erwiesen, das jedenfalls zeigen entsprechende Studien von Stephen Fleming.

Den eigenen Gedanken etwas kritischer oder distanzierter zu begegnen, scheint ganz von selbst für mehr geistige Klarheit zu sorgen. Genau das übt man in der Meditation. Folglich ist der regelmäßige, stille „Blick auf sich selbst“ ein weiteres, sehr geeignetes Mittel, um Selbsteinschätzung und tatsächliche Umstände mehr in Übereinstimmung zu bringen.

 

Selber lenken

Ein klarer Blick durch die Windschutzscheibe allein reicht nicht aus, um das Auto auf Kurs zu halten. Es braucht gleichzeitig den entschlossenen Griff ans Lenkrad. Unser Lenkrad befindet sich ganz vorne, direkt hinter der Stirn. Hier arbeitet die neueste Entwicklung der Steuerungstechnik, zumindest aus Sicht der Evolution.

Die Hirnregion, die Anatomen als frontalen Pol bezeichnen, besitzt einige bemerkenswerte evolutionsbiologische Features, von denen unsere nächsten Verwandten nur träumen können. Neuartige Kabel, aus besonderem Material und eine innovative Verschaltung ermöglichen die Schaffung einer übergeordneten Steuerzentrale. Sie verwaltet unsere langfristigen Ziele und sorgt, falls nötig, für den Wechsel von einem Ziel zu einem anderen oder für den Schwenk zu einer neuen Strategie.

Wettstreit der Ziele

Kurzfristige Ziele konkurrieren oft mit langfristigen. Sie kennen das mit Sicherheit. Ihr Blick fällt auf den Eisbecher mit Erdbeeren und Sahne, und das langfristige Ziel der Gewichtsreduktion hat schon verloren. Konkurrenzkämpfe dieser Art beschränken sich bei weitem nicht nur auf Eisbecher. Egal, ob es sich um die persönliche Gesundheit handelt oder um den allgemeinen CO2-Ausstoß. Überall lauern kurzfristige Wünsche, die in chronischer Konkurrenz zu unseren langfristigen Zielen stehen – ein Kampf zwischen Kopf und Füßen .

Ans Lenkrad greifen

Um das Steuer zugunsten langfristiger Ziele herumzureißen, ist der Einsatz des frontalen Pols von Nöten. Aber auch bei Automatismen oder Gewohnheiten, in denen wir uns festgefahren haben, kommt dieses geistige Werkzeug zum Einsatz. Allerdings kostet das Anstrengung und erfordert wahrscheinlich auch etwas Übung.

Interessant ist, dass diese Region direkt hinter der Stirn, nicht nur für die Navigation unserer Ziele sorgt. Sie spielt gleichzeitig eine gewichtige Rolle bei der geistigen Selbstbeobachtung. Bei Menschen, denen Forscher eine gute geistige Klarheit attestieren, ist diese Hirnregion aktiver, als bei jenen mit einem eher unzuverlässigen Blick auf den eigenen Geist! Die gute Botschaft: geistige Klarheit lässt sich trainieren, zum Beispiel durch Meditation.

Fazit: Unser Geist besitzt die notwendige Ausrüstung, um das Steuer für das eigene Leben selbst in die Hand nehmen zu können. Da die Sache sowohl Anstrengung als auch Übung kostet, ist sie nicht garantiert. 

 

Wer tiefer eintauchen möchte:

David Badre erforscht unsere geistigen Steuerungsmechanismen

Stephen Fleming ist einer der führenden Forscher bei Metakognition

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