Yoga ist Arbeit
Dass Yoga Arbeit erfordert oder gar eine Art Arbeit darstellt, klingt erst einmal irritierender. Denn von Arbeit ist im Yoga-Angebot der VHS ebenso wenig die Rede, wie bei der Anleitung zum „Hund“ auf YouTube. Woran liegt das?
Dass Yoga Arbeit erfordert, oder auf eine gewisse Art sogar gleichbedeutend mit Arbeit sei, klingt erst einmal irritierend. Denn von Arbeit ist im Yoga-Angebot der VHS ebenso wenig die Rede, wie bei der Anleitung zum „Hund“ auf YouTube. Woran liegt das?
Last der Arbeit
Arbeit – das riecht nicht nur nach Schweiß und Anstrengung, sondern auch nach Akkord, Einschränkung und Bevormundung. Kurzum, das Wort steht für alles, das man möglichst vermeidet oder zumindest schnell hinter sich bringt. Akzeptiert wird Arbeit bestenfalls als notwendiges Übel – notwendig, um sich den wirklich erfüllenden Dingen zuwenden zu können. Das heißt: spontan, und natürlich im Wohlfühlklima, das zu tun, was einem das Bauchgefühl rät. Dabei entspannt sich selbst kennenlernen, um zur eigenen Authentizität zu finden und Zufriedenheit zu erfahren.
Ausgleich und Entspannung durch Yoga
Ganz zufällig scheint Yoga all das zu bieten, und zwar ganz nebenbei. Also zusätzlich zum strammen Po und dem geschmeidigen Body. Wie ist das möglich, ganz sanft und easy, seinen Körper und seinen Geist aufzupeppen? Nun ja, durch den Zauber des Orients sozusagen, oder einfach, durch die richtigen Energien und Vibrations. Als Erklärung scheint das den meisten zu genügen.
Aber, ist das wirklich Yoga? Genügen solch einfache Erklärungen tatsächlich allen?
Wirklich Yoga
Weil ich das nicht glaube, betreibe ich diese Internetseiten. Denn ganz sicher gibt es Menschen, die einen anderen, wissenschaftsbasierten Zugang zu Yoga und den verheißenen „inneren Veränderungen“ suchen. Dass es aber so wenige sind, erstaunt mich inzwischen doch! Denn obwohl unser Playbook „Wie Yoga deinen Geist verändert“ einen solchen nachvollziehbaren Yoga ausbreitet, scheint sich niemand dafür zu interessieren. Ähnliches gilt für die „Zehn Dinge über unser Gehirn, die jeder wissen sollte“.
Liegt das daran, dass in meinen Darstellungen von Anstrengung, Konsequenz oder Selbstbeschränkung die Rede ist, gelegentlich vielleicht sogar von Arbeit? Also nicht gerade die Buzzwords für eine vom Workload gestresste Wohlfühlgemeinde. Doch von was für einer Arbeit rede ich überhaupt? Mit akrobatischer Körperbeherrschung im Pfau und schwitzend im Kopfstand zum perfekten Workout? Um damit im Chinesischen Staatszirkus auftreten oder bei YouTube Follower gewinnen zu können?
Richtig ist, dass Yoga so viel wie „ins Joch spannen“ bedeutet. Das wollten die alten Yogis aber wohl kaum, um damit bei Publikum Likes zu ergattern. Und auch der Einsatz des Körpers stand lediglich an zweiter Stelle, diente eigentlich nur einem übergeordneten Ziel, nämlich vritti nirodha. So jedenfalls bringt es Patanjali auf den Punkt. Wörtlich bedeutet das so viel wie: die geistigen Bewegungen (vrittis) sollen zur Ruhe kommen (nirodha). Man könnte aber auch sagen, dass beim Yoga der Geist „ins Joch gespannt“ oder einfach „kontrolliert“ werden soll.
Also frei übersetzt: eine Arbeit am oder mit dem eigene Geist. Oder noch etwas allgemeiner: eine Arbeit an sich selbst.
Yoga als Arbeit an sich selbst
Wenn mit dieser Arbeit weder das Feilen am perfekten Körper, noch der Erwerb exotisch-magischer Fähigkeiten gemeint ist, um was geht es dann? Indische Texten wie die Upanischaden verweisen an dieser Stelle gerne auf das Bild des Wagenlenkers, der zwei Rosse vor seinem Karren in eine gemeinsame Richtung lenken muss. Die zwei Rosse stehen für unterschiedliche Antriebe oder Motive, die es aufeinander abzustimmen gilt.
Abstimmungsarbeit
Nun haben wir in der Regel sogar mehr als nur zwei Wünsche, Vorlieben oder Ziele. Die alle unter einen Hut zu bringen, ist nicht leicht. Denn viel zu oft bedeutet die Entscheidung für ein bestimmte Sache das Verabschieden von anderen. Dabei sein gesamtes Wunsch- und Zielerepertoire im Blick zu behalten, erfordert schon einiges. Wenn man zusätzlich Beständigkeit sucht – also morgen noch zu den Entscheidungen stehen will, die man gestern gefällt hat –, wird das ganze Ausmaß des Projekts offensichtlich.
Zugegeben, das klingt jetzt etwas nach karriere-geeichter Selbstoptimierung. Ist aber nicht gemeint. Denn noch treffender, und zugleich einfacher formuliert, geht es darum, stimmig mit sich selbst zu werden. Das erfordert, zu wissen, was man will, und was dem eigenen Leben Sinn verleiht. Aber nicht nur das Was gehört dazu, sondern auch das Wie. Mit sich selbst stimmig zu sein, heißt eben auch zu wissen, ob man seine Ziele auf eine Art verfolgt, die den eigenen Werten entspricht.
Yoga kann tatsächlich verändern
So gesehen kann Yoga am Ende tatsächlich all das liefern, was aktuell so gefragt ist, nämlich Authentizität, Selbsterkenntnis, Effektivität und Entspannung. Um zu wissen, was man will, wird man sich selbst erforschen müssen, also sein wirkliches Selbst entdecken. Stimmig mit sich selbst zu sein, legt die Basis für echte Authentizität und beglückt mit tiefer Zufriedenheit. Stimmigkeit bei seinen Zielen und Werten zu sein ermöglich ein „schlankeres“ oder effektiver Handeln. Man muss nicht immer wieder neu entscheiden, weil die Richtung klar ist. Kurz, es ist entspannter!
Aber ist das nicht lediglich ein eitles Ego-Programm? Nicht, wenn die angestrebte Stimmigkeit auch die Interessen der Anderen berücksichtigt. Dafür sorgen die eigenen Werte. Denn Werte sind ja immer auch ein Produkt kultureller und gesellschaftlicher Aushandlungen, beinhalten also das, was im Interesse aller als erstrebenswert gilt. Entscheidend ist freilich, dass man sich seine eigenen Werte ständig bewusst hält, sie also nicht nur Sonntags daher betet. Sich bewusst zu sein, was man tut oder was im eigenen Geist gerade passiert, genau das lernt man beim Yoga. Kurz, mit dem Bewusstsein der eigenen Werte wird der Arbeit an sich selbst jene ethische Dimension verliehen, die einem in den Sinn kommt, wenn am Ende einer Yogastunde das gemeinsame Shanti, Shanti, … Frieden, Frieden erklingt.
Yoga als Mittel der Selbstbeobachtung
Bisher habe ich lediglich beschrieben, wie, aus meiner wissenschaftsbasierten Sicht, die beim Yoga angestrebten Veränderungen des Geistes oder der Persönlichkeit aussehen könnten. Jetzt komme ich zu den dafür notwenigen „Übungen“. Genau genommen sind nicht die Übungen an sich ausschlaggebend. Man kann Stunden im Kopfstand verbringen, ohne dass sich im Kopf die gewünschten Veränderungen einstellen. Von viel größerem Einfluss ist dagegen die Vorgehensweise, man könnte auch sagen die Strategie. Zum entscheidenden Hebel wird die Strategie dann, wenn sie eine klaren Selbstbeobachtung fördert.
Selbstbeobachtung lernen
Aber der Begriff Selbstbeobachtung allein ist viel zu unscharf – jeder hat da seine eigene Vorstellung, wann und wie man sich selbst beobachtet. Deswegen brauchen wir eine geeigneten Lernprozess. Wir finden ihn in Beschäftigung mit unserem Körper. Denn der Umgang mit unseren Bewegungen eignet sich hervorragend, um jene Art klarer, aber nicht wertender Selbstbeobachtung zu lernen, die dann zur Beobachtung der schwer greifbaren geistigen „Bewegungen“ taugt. Die Strategie bleibt die gleiche, auch wenn die „Beobachtung“ nun still sitzend auf dem Meditationskissen stattfindet.
Diese Art der Selbstbeobachtung eröffnet uns tatsächlich die Möglichkeit der Selbsterkenntnis – also das, was alte indische Texte verheißen und was für so manchen den besonderen Zauber von Yoga ausmacht. Doch wirkliche Selbsterkenntnis birgt einige Herausforderungen. Beispielsweise dann, wenn wir realisieren müssen, dass wir, trotz bester Absichten, nicht wissen, was wir gerade tun! Menschen sagen, sie stehen aufrecht oder halten, auf dem Rücken liegend, ihren Arm senkrechte in Richtung Zimmerdecke. Ein äußerer Beobachter sieht jedoch, dass das nicht der Fall ist. Folglich weiß diese Person, in diesem Moment, bei dieser Bewegung, nicht genau, was sie wirklich tut.
Von der Selbsttäuschung zur Selbsterkenntnis
Das ist meist schwer zu akzeptieren, besonders in einer von Benotung und Leistungsdenken geprägten Gesellschaft. Freilich handelt es sich bei dieser Selbsttäuschung um nichts, das eine schlechte Note verdiente. Vielmehr ist sie etwas ganz Natürliches, etwas, das uns alle begleitet. Den meisten fällte sie freilich nie auf. Erst die Ruhe der Yogamatte eröffnet eine Möglichkeit, den eigenen Selbsttäuschung zu begegnen, sie zu akzeptieren und allmählich immer mehr mit einzuberechnen.
Das ist für mich der entscheidende Punkt oder das, was Yoga ausmacht. Die alten Texte sprechen vom „Schleier der Maya“, der den Blick auf die Wirklichkeit verstellt. Was hier als „Schleier“ bezeichnet wird, ist nichts anderer als unsere, durch psychologische Mechanismen wie dem Konfabulieren verzerrte Wahrnehmung. Indem wir diesem „Fehler“ nachgehen, ihn klar erkennen und mit einberechnen, erkennen wir die Dinge auf eine andere, neue Art.
Yoga und das Kleingedruckte
Wie das Erlernen dieser Art der Selbstbeobachtung im Einzelnen geschieht, habe ich zusammen mit Frank in „Wie Yoga deinen Geist verändert“ ausführlich beschrieben und dank Franks großartigem Talent anschaulich dargestellt. Doch das Interesse ist gering. Erneut frage ich mich: warum ist diese Art der Erklärungen von Yoga so wenig attraktiv?
Ausdauer und Disziplin
Vielleicht weil sie Ausdauer, Entschlossenheit und eine gewisse Disziplin verlangen? Denn selbst wenn der beschriebene Weg klar und nachvollziehbar ist, so ist er doch kein Nachmittagsspaziergang, sondern eher eine mehrtägige Bergwanderung. Also nichts für vom Job Erschöpfte, die im notwendigen Commitment eine Beschneidung ihrer Spontaneität sehen.
Als wären das nicht schon genug No-Gos, gibt es da auch noch das Kleingedruckte. Ganz „unten“, oder einfach nach genauem Durchdenken, wird klar, dass die durch Yoga mögliche Persönlichkeitsentwicklung einen Preis hat.
Kann man Veränderung erwarten und gleichzeitig so bleiben wie man ist? Wer glaubt schon ernsthaft, sich selbst erkennen zu können, ohne dabei auch Selbsttäuschungen oder andere dunkle Seiten zu erblicken?
Und wenn man danach sucht, was man wirklich will, heißt das doch auch, man weiß aktuell eben nicht genau, was man will! Aufmerksame Selbstbeobachtung offenbart aber auch, wenn bei einem selbst etwas über Kreuz liegt, also keine Stimmigkeit herrscht. Beispielsweise, wenn mal wieder kurzfristige Interessen gegenüber langfristigen gewinnen oder den eigenen Werten zuwider laufen.
Kurzum, das Kleingedruckte weist auf eine eigeschränkte Souveränität hin, oder, wie Freud es formuliert hat, darauf, dass wir nicht Herr im eigenen Haus sind! Dass es sich dabei nicht um etwas Krankhaftes, sondern um etwas Natürliches, bei uns allen vorhandenes handelt, sollte die Akzeptanz erleichtern, gleichzeitig aber auch den Handlungsbedarf unterstreichen. Spätestens hier könnte etwas mehr Wissen über die Bastelmechanismen unseres Gehirns unterstützend wirken …
Selbstskepsis und Selbstbeschränkung
Wer es dem Yogi gleichtun und etwas Souveränität zurückgewinnen will, braucht deshalb eine Portion Selbstskepsis und die Bereitschaft zur Selbstbeschränkung. Wer von vornherein glaubt, Herr im eigenen Haus zu sein, wird lediglich nach Rechtfertigungen für eventuelle Unstimmigkeiten suchen. Genaues Beobachten hält so jemand für überflüssig. Zusätzlich ist Selbstbeschränkung gefragt, wenn man entdeckt, dass persönliche Ziele nicht zusammenpassen oder der erste Gefühlsimpuls den eigenen Werten zuwider läuft. In solchen Fällen gilt es beim Impuls die Stopptaste zu drücken, um langfristig auf Kurs und mit sich selbst stimmig zu bleiben.
Zweifellos, das ist anstrengend, und im VHS-Programm findet sich davon nichts.
Wofür wir uns anstrengen
Wer mir bis hierher gefolgt ist, dürfte verstehen, warum ich meine, dass Yoga durchaus Arbeit ist. Aber das erfährt man, wenn überhaupt, nur im Kleingedruckten. Warum nun sollte jemand diese Arbeit auf sich nehmen, wo es doch überall Wohlfühlyoga gibt? Man könnte, nicht ohne Berechtigung, sagen, dass Yoga gerade erst durch die Erfordernisse des Kleingedruckten zum Leben erweckt wird. Aber es gibt eine noch viel einfachere Erklärung: weil so die Möglichkeit entsteht, sich wirklich weiter zu entwickeln, um die/der zu werden, die/der man sein will.
Wenig Interesse – viel Bedarf?
Nach ihren Zielen gefragt, liefern die meisten prompt einen Karriereplan, eine bestimmte Marathonzeit oder ein Reiseziel. Ganz anders bei Zielen, die sich um die eigene Persönlichkeit drehen. Wenn ich Menschen frage, ob es etwas gibt, an dem sie bei sich persönlich arbeiten, sind sie meist irritiert: was meint der? Oder sie glauben, dass ich Unstimmigkeiten suche, um sie kritisieren zu können. Oder beides. In einer Leistungsgesellschaft wird das Suchen nach eigenen Unstimmigkeiten, oder gar deren Offenlegen, schnell als Schwäche ausgelegt, und sei es nur vor sich selbst.
Doch gibt es wirklich jemanden, der rein gar nichts hat, was sie oder er eigentlich verändern oder gar loswerden möchte? Sei es eine Körperhaltung, Gewohnheit oder Charaktereigenschaft. Manch einer bekennt sogar, eine besserer oder „guter“ Mensch werden zu wollen, also eine Auseinandersetzung mit den eigene Werten zu suchen. Anders gesagt, jeder dürfte bei genauer Betrachtung etwas haben, an dem sie oder er arbeiten könnte. Aber warum ist die Bereitschaft dafür Zeit, Anstrengung und Disziplin zu investieren so gering?
Diskrepanz und Versuchung
Wieviel Zeit, Anstrengung und Disziplin investieren wir in einen guten Schulabschluss? Was nehmen wir nicht alles auf uns für unseren Job? Zugegeben, das ist alles nicht ganz unwichtig. Aber steht es in einem angemessenen Verhältnis zu dem was wir bereit sind auf uns zu nehmen, um uns persönlich weiter zu entwickeln? Wie viel Disziplin bringen wir tatsächlich auf, um die/der zu werden, die/der wir sein wollen? Welche Mühen akzeptieren wir, um herauszufinden, was wir wollen, wer wir sind oder was unserem Leben Sinn verleiht?
Im Gegensatz zur „normalen“ Ausbildung und Arbeit, für die es klare Inhalte gibt, ist das bei der Arbeit an der eigenen Persönlichkeit, an ihrer Ausbildung und Weiterentwicklung, ganz anders. Nicht nur der Freiraum scheint groß, sondern auch das Ausmaß der angeboten Wege. Hier ist die Versuchung groß, auf die Wirkung von Trance-Tanz oder eines magischen Matras zu setzen. Oder, man beten zum Guru oder dem Lieben Gott, dass er die Dinge regelt. Und eine Spende für die Afrika-Nothilfe lässt sich als Selbstbeschränkung geltend machen, die nebenbei auch einen privilegierten Platz im Jenseits sichert.
Woran arbeitest du?
Ich meine, wir sollten besser zu wem auch immer beten, dass er uns sagt, was wir tun können. Der aufmerksame Blick auf den eigen Geist hilft uns dabei mehr, als jedes Mantra. Die sich daraus eventuell ergebende Selbstbeschränkung ist kein zähneknirschendes Gehorsam in Hoffnung auf göttliche Anerkennung, sondern dient der Herstellung eigener Stimmigkeit. Das heißt, diese Art der Selbstbeschränkung führt paradoxerweise zu mehr Zufriedenheit.
Eigentlich sollte man meinen, dass Selbstbeschränkung gerade hoch im Kurs steht, wo mittlerweile sogar Politiker davon reden, dass wir uns, angesichts von Klimaveränderung, Ressourcenknappheit und Überbevölkerung, beschränken müssen. Da sollte ein Üben in geschütztem Rahmen, also Yoga, doch gerade recht sein.
Zugegeben, ich träume von einer Zeit, in der es selbstverständlich ist, an sich selbst zu arbeiten. Was das mit Yoga zu tun hat, habe ich versucht in diesem Beitrag zu beschreiben. Ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht.